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Die Marginalspalte verknüpft das Gespräch mit Dokumenten und vertiefenden Informationen aus dem Archiv.
Diskurs Architektur

Wie wird einem dieser Ort und das Geburtshaus von Adolf Hitler bewusst?

Wilfried Kassarnig

Ich habe Braunau vor der ersten Besichtigung der Wettbewerbsauslobung nicht gekannt. Mein Eindruck war, dass es ein äußerst sympathischer Ort ist. Aber das Haus hat natürlich eine Symbolträchtigkeit, die auch durch einen davor aufgestellten Stein markiert ist, der auf diesen Ort hinweist. Sonst ist das Haus ja relativ unauffällig. Es ist ein besonderes Haus. Ich hatte vor einigen Jahren Besuch aus Amerika, die wollten keinen Stephansdom, keine Gloriette sehen, sondern das Hitler-Haus. Das ist sichtlich weltweit eingeprägt im Denken der Menschen.

DA

Wie soll die Bedeutung dieses Ortes, die Sie ja gerade schon über die österreichischen Grenzen hinaus abgesteckt haben, Ihrer Ansicht nach in der Zukunft gestaltet werden?

Wilfried Kassarnig

Eine Vorgabe des Auslobers war das Neutralisieren des Ortes: Es sollte kein Kultort werden und kein Versammlungsort, um diesem alten Gedankengut hier noch Feuer zu geben. Wir haben versucht, es möglichst gewöhnlich anzupacken, zur Hauptstraße hin wieder ein historisches Fassadenbild zu erzeugen, das sich den Nachbarhäusern gegenüber verhält. Außerdem haben wir das ganze Objekt in zwei Objekte geteilt, mit unterschiedlicher Farbgebung, und durch leichte Unterschiede in den Gliederungen das Gebäude nach hinten hin zerteilt. Eigentlich haben wir es ergänzt mit Bauformen, die in der Struktur der Stadt, des Ortes, auch gewöhnlich und üblich sind.

DA

Was war für Sie als Architekturbüro die Motivation, an dem Wettbewerb teilzunehmen?

Wilfried Kassarnig

Der Reiz war auch im Persönlichen gegeben. Meine Eltern sind ja doch aus dieser Generation, die die volle Wucht der Auswirkung dieser Person zu tragen bekommen haben. Mein Vater war an der Front bis hin nach Stalingrad, wo er angeschossen wurde und als einer der Letzten herausgekommen ist. Das sind sehr tiefgreifende Erinnerungen aus Erzählungen, die einem da aufstoßen und aus dem heraus die Neugier kam, hier in der Tiefe mehr zu erfahren und hineinzusehen. Wie es dazu kam, war mit ein Grund, weil sonst ist es ja kontraproduktiv für den Architekten, zu neutralisiert zu bauen und ja nicht aufzufallen und unterzugehen in der Umgebung.

DA

Wie haben Sie von diesem Wettbewerb erfahren?

Wilfried Kassarnig

Ich glaube, über die Kammernachricht, über eine Auslobung, die sich nicht namentlich auf das Haus bezogen hat, sondern auf den Ort Salzburger Vorstadt in Braunau. Die Vermutung lag aber sehr nahe, worum es geht.

DA

Es war Ihnen also gleich klar, worum es sich beim Gebäude mit der Bezeichnung „Salzburger Vorstadt 15“ handelt?

Wilfried Kassarnig

Eigentlich schon. Schon aus dieser Neugier heraus habe ich dann tiefer gebohrt und mir die Unterlagen zukommen lassen und festgestellt, dass meine Vermutung zutraf.

DA

Haben Sie mit Ihrem Büro schon an ähnlichen Themen gearbeitet, beziehungsweise an vergleichbaren Wettbewerben teilgenommen?

Wilfried Kassarnig

Die Teilnahme grundsätzlich wurde nicht hinterfragt. Wir haben uns für die Aufgabe entschieden und haben sie dann bürointern aufgeteilt und abgewickelt. Inhaltlich ist es nicht zur Diskussion gekommen, ob man doch alles wieder weglegt und nicht teilnimmt, sondern mit der Entscheidung, die Unterlagen abzuholen und teilzunehmen, ist es dann auch durchgezogen worden.

DA

Wie war Ihr Team zusammengestellt? Haben Sie für diesen Wettbewerb Expertise aus einem anderen Feld, zum Beispiel aus der Zeitgeschichte, eingeholt?

Wilfried Kassarnig

Wir sind kein großes Büro, wir sind fünf sechs Köpfe, und einer ist schwerpunktmäßig immer auf der Wettbewerbsschiene tätig. Er hat das auch auf den Tisch bekommen und hat sich in das Thema hineinfallen lassen und angefangen, es aufzubereiten. Wir sind dann eigentlich nur Gesprächspartner und Diskussionspartner, die nicht regelmäßig an der Sache arbeiten. Das war die Herangehensweise. Stefan Kropsch, der gerade neben mir sitzt, hat am Schluss auch mit hineintauchen müssen, denn als die Zeit immer knapper geworden ist, hat er mitgearbeitet, um es zu einem Ende zu führen.

DA

Was die Nutzung des Gebäudes angeht, hatte die Historikerkommission Empfehlungen für den sogenannten „historisch korrekten Umgang“ ausgesprochen. Dezidiert hat sie zwei Nutzungsarten empfohlen: einerseits eine sozial-karitative Nutzung, die geeignet sei, um die Symbolkraft des Ortes zu brechen und andererseits die administrativ-behördliche Nutzung, die sie als gut geeignet beschreibt, um den Enteignungszweck zu rechtfertigen. Diese Kommission war die Vorstufe zur Auslobung. Wie stehen Sie zur behördlich-administrativen Nutzung des Gebäudes als Polizeistation?

Wilfried KassarnigPolizeistation
Ich finde es nicht ungeschickt, sich für diese Variante entschieden zu haben, weil man Besucher oder Leute, die im Haus Nähe suchen, damit abhalten kann. [...] ich sehe die soziale Seite als Nutzung dort eher kritisch, und dass man dadurch wahrscheinlich auch Sympathisanten und Besucher in das Haus hineingezogen hätte.
DA

Haben Sie den Realisierungswettbewerb als das richtige Format empfunden? Oder hätten Sie auch an einem Ideenwettbewerb teilgenommen, der die Nutzungsfrage noch einmal ganz grundsätzlich diskutiert hätte?

Wilfried KassarnigKommissionsbericht
Ich will mir gar nicht anmaßen, mehr Wissen zu dem Thema zu haben als die Leute, die sich schon jahrelang damit beschäftigt und auseinandergesetzt haben. Und da hat es ja schon einige Sitzungen und Kommissionsdiskussionsrunden gegeben. Ich glaube, in der Zeit, die uns vorgegeben war, war das schon der richtige Weg, es von einer Entscheidung aus, die schon getroffen ist, weiterzuführen.
DA

Die Auslobungsunterlagen haben keine Sprache für den gedenkpolitischen Umgang mit dem Gebäude gefunden. Wie ist es Ihnen beim Erarbeiten des Entwurfs und der Texte damit gegangen, dass hier der historische Kontext gänzlich ausgeklammert wurde? Es ist ja nicht einmal der Name Adolf Hitler verwendet worden.

1943
Das Gebäude nach der Umgestaltung des Sockelbereichs, nach 1943
Zum 54. Geburtstag von Adolf Hitler wird das von der NSDAP als „Führer-Geburtshauses“ bezeichnete Gebäude feierlich eröffnet. Die Umbauarbeiten betrafen den Sockelbereich und Teile der Fassade sowie die Innenräume. Auch das Hinterhaus wurde in diesem Zuge abgebrochen. Im Erdgeschoss des Vorderhauses wird fortan die öffentliche „Volksbücherei Braunau“ betrieben. In den beiden Obergeschossen finden Propaganda-Ausstellungen statt.
Wilfried KassarnigBauliche Strategie
Ich habe dieses Objekt auch in der Verantwortung der Stadt gegenüber gesehen. [...] Ich glaube, dass man diese Verantwortung übernehmen muss und nicht ein geschlossenes historisches Bild zerreißt, sondern es wieder zurückführt auf eine Stufe der Vorgeschichte, weg von der Zeit 1938/40, der Zeit einer anderen Ausrichtung, die man nicht mehr in der Form haben und zeigen will.
Franz Denk
Aber das Herstellen einer „optischen Normalität“ impliziert doch einen radikalen Bruch mit der Geschichte: das Haus wird auf sein Erscheinungsbild vor Adolf Hitler zurückretuschiert? Auf sein Erscheinungsbild aus welcher Zeitspanne? Man tut so, als hätte es Hitler hier nie gegeben und genau das macht das Haus wieder zu etwas Besonderem. Wäre das ein beliebiges Renaissancehaus, hätte unser Lösungsvorschlag sicher nicht so ausgeschaut wie unser Wettbewerbsprojekt.
Insofern kann man sagen, dass wir die Normalisierung nur teilweise unterstützt haben und die Besonderheiten des Hauses behutsam hervorgehoben haben.
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DA

Sie folgen mit Ihrem Beitrag auch sprachlich dem Auslobungstext, indem Sie beispielsweise davon schreiben, dass der Bestand „inhaltlich neutralisiert“ werden soll und die vorgeschlagenen baulichen Maßnahmen „das geschichtliche Ereignis des Geburtshauses“ „verwischen“.

Wilfried Kassarnig

Eine andere Entscheidung wäre gewesen, ganz anders zu denken als den Weg, den der Auslober schon vorbereitet hat. Ich habe es richtig gefunden, den Weg, den er vorgezeichnet hat, weiter zu gehen. Wir haben uns dort angehängt und in der gleichen Bresche weitergearbeitet. Wenn wir ganz anders gedacht hätten, wäre es auch eine Möglichkeit gewesen, dass man abgebrochen hätte, ja.

DA

Sie meinen einen Abbruch der Arbeit an dem Wettbewerb?

Wilfried Kassarnig

Den Abbruch unserer Bearbeitung. Wenn wir etwa meinen würden, es sei nicht der richtige Weg in der Vorgeschichte vorgezeichnet und wir könnten diesen Weg nicht mehr weitergehen. Ich glaube hingegen, es war stufenweise schon so entwickelt, dass das für uns eine Möglichkeit war, weiterzumachen.

Wilfried KassarnigSprachlichkeit
Eine andere Entscheidung wäre gewesen, ganz anders zu denken als den Weg, den der Auslober schon vorbereitet hat. Ich habe richtig gefunden, den Weg, den er vorgezeichnet hat, weiter zu gehen. [...] Daher sind die Worte in unserer Projektbeschreibung sicher auch herausgegriffen aus den Worten, die das Innenministerium oder die Mitarbeiter aus dieser Richtung schon so in den Mund gelegt haben.
DA

Denken Sie, dass mit dem Geburtshaus von Adolf Hitler anders umzugehen ist als mit historisch nicht belastetem Bestand?

Wilfried Kassarnig

Ja, eigenartigerweise ist es das Geburtshaus, das so eine Bedeutung hat und nicht irgendein anderes Bauwerk in München oder in Berlin, das vielleicht auf dem Weg Hitlers auch eine Bedeutung gehabt hat.

DA

Dort ist er geboren, das kann man nicht ignorieren. Der Geburtstag Adolf Hitlers wurde im gesamten Dritten Reich gefeiert und Hitler ist nicht nur dort geboren, sondern es fanden dort zu seinem Geburtstag jedes Jahr Feierlichkeiten statt. Darüber hinaus wurde das Gebäude von den Nationalsozialisten umgebaut und als „Geburtsstätte des Führers“ inszeniert. Noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich hier bestimmte Personen unter anderem an seinem Geburtstag weiterhin versammelt. Dadurch hat sich die Bedeutung des Geburtshauses weiter eingeschrieben in unsere Geschichte – und die Frage nach dem Umgang ist in gewisser Hinsicht losgelöst von dem reinen Ereignis der Geburt. Sollte man also mit diesem Ort architektonisch anders umgehen als mit anderen, nicht belasteten Gebäuden?

Wilfried Kassarnig

Ja, man muss, glaube ich, den Faktor Zeit dort hineinweben. Alles, was zwei, drei Generationen zurück liegt, hat nicht mehr dieselbe Bedeutung, als wenn es noch über Eltern oder nahe Verwandte einen starken Bezug zu dieser bestimmten Zeit gibt. Und eine gewisse Zeitverzögerung ist, dass man dem Haus wieder ein historisches Kleid verleiht, das es so schon gehabt hat, also insofern auch eine Rechtfertigung findet. Aber das Wesentliche ist sicher der Faktor Zeit. Es ist noch immer frisch, das Thema ist noch nicht fertig gegessen. Es braucht wahrscheinlich noch ein, zwei Generationen, bis es ordentlich abgesessen ist und nicht mehr diese Bedeutung hat. Und da muss man jetzt schauen, dass man diesen Ort nicht zum Kultort werden lässt, sondern möglichst flach hält im Inhalt.

DA

Sie meinen, dass die Bedeutung oder das, was an diesem Ort geschehen ist – nämlich dass Adolf Hitler dort geboren wurde – immer mehr aus der Wahrnehmung verschwindet?

Wilfried Kassarnig

Genau das glaube ich, ja. Dass er in fünfzig Jahren, in hundert Jahren nicht mehr so eine tiefe Wirkung erzeugen wird.

DA

Können Sie uns Ihren architektonischen Ansatz zum Umbau und zur Umgestaltung des Geburtshauses erläutern und uns in Ihren Entwurf einführen?

Wilfried Kassarnig

Die Aufgabe hatte ja mehrere Facetten. Das eine war das Neutralisieren. Das war eine Grundhaltung der Herangehensweise. Aber es gibt einen wunderschönen Arkadengang, den wir integriert haben. Wir haben einen überdachten Innenhof erzeugt. Der Arkadengang war ein Teil des ganzen Entwurfs und der zentrale Verteilerort auch für das Gebäude. Das historische Fassadenbild zur Straße hin hatte ich ja bereits angesprochen. Bei den Fassaden zum Seitengässchen und zum Platz hin war für mich das Thema Licht/Schatten ausschlaggebend. Wir haben senkrechte Lichtschlitze als Belichtung für das Rauminnere vorgegeben und haben so versucht, dieses Alltagskleid des Hauses doch wieder zu durchbrechen gegenüber dem übrigen Stadtbild. Wir wollten uns zwar in der Bauform, in der Masse und in den Brachflächen einordnen, doch dann individuell mit einem Fassadenbild versehen.

DA

Sehen Sie dieses Verwischen und das Wegnehmen des Erinnerungswerts, das Sie in Ihrem Wettbewerbstext beschreiben, als Schritt hin zu einer Normalisierung des Gebäudes beziehungsweise seiner Eingliederung in die historische Umgebung?

Wilfried Kassarnig

Ja, damit das Objekt keine zu große Selbständigkeit erzeugt oder sich in den Mittelpunkt rückt, sondern sich in eine Ortsstruktur einfügt.

DA

Bezüglich der von Ihnen vorgeschlagenen Dachform: Was war der Entwurfsgedanke hinter den Doppelgiebeln mit dem Grabendach? Warum haben Sie die Dachform verändert?

Wilfried Kassarnig

Der Gedanke war, wieder eine Typologie des Ortes zu erzeugen, die Ähnlichkeiten hat. Es ist eine sehr schlanke Bauparzelle, die sich nach hinten ausdehnt und diese Dachform ist auch mit einer gewissen Asymmetrie versehen. Wir haben so dieses historische Entstehen des Unperfekten mit hineingenommen. Auch, dass es sich nicht in einer überstrengen Form präzise darstellt, sondern, so wie die Parzelle auch, nicht ganz parallel in ihren Randbegrenzungen ist. So ist das Objekt dann auch in der Dachzone dann asymmetrisch konstruiert.

1746–1854
Die beiden Einzelgebäude befinden sich ab 1746 in gemeinsamem Besitz. Mitte des 18. Jahrhunderts findet die bauliche Verbindung der beiden Gebäude statt. Die Fassaden werden einheitlich im Sinne des Biedermeier gestaltet, der Doppelgiebel wird abgetragen, die zwei ehemaligen Satteldächer werden zu einer Dachform zusammengeführt.
DA

Konsequenz dieser Rückführung zum Doppelgiebel, den es dort vor der Zusammenführung des Hauses gab, ist die Rekonstruktion einer vermeintlich unbelasteten Vergangenheit. Ist diese formale und inhaltliche Entscheidung auch auf den Wunsch der Auslobung zurückzuführen? Oder ist sie ganz frei davon entstanden?

Wilfried Kassarnig

Mag sein, dass man das im Unterbewusstsein im Ohr hatte. Aber bei der Betrachtung der Dachlandschaft von Braunau ist diese Dachform eine Typologie, ein Muster, ein Raster, das sich quer durchzieht und sich in dieser Breite und Schmalheit oftmals darstellt. Deswegen haben wir das aufgenommen in unsere Überlegungen, als ein Muster, das für uns in das Stadtbild hineinpasst.

DA

Zugespitzt gesagt könnte man sagen, dass so baulich suggeriert wird, dass alles was nach 1850 oder nach dem Biedermeier passiert ist – inklusive dem Nationalsozialismus – nie stattgefunden hat.

Wilfried Kassarnig

Je abstrakter man das Haus in die Zeit gedacht hätte, desto mehr hätte es sich zu einer Wichtigkeit dargestellt. Und es ist ein gewisses Mäntelchen der Historie, das sich in der Dachform darüber stülpt und dadurch auch das ganze Thema dämpft.

DA

Kann Erinnerung also beseitigt werden?

2016
Eine Debatte um die künftige Nutzung des Gebäudes wird durch die Forderung des Innenministers Wolfgang Sobotka (ÖVP) angestoßen, da laut ihm keine Denkmalwürdigkeit gegeben sei: „Das Hitler-Haus wird abgerissen. Die Kellerplatte kann bleiben, aber es wird ein neues Gebäude errichtet. Das Haus wird dann entweder einer karitativen oder einer behördlichen Nutzung durch die Gemeinde zugeführt.“ („Hitlers Geburtshaus wird abgerissen“, Die Presse, 17.10.2016)
Wilfried Kassarnig

Es hat ja auch den Gedanken gegeben, das Objekt komplett abzureißen und etwas Neues dort hinzustellen. Aber ich glaube, der Ort hätte trotzdem nicht ganz die Kraft verloren. Er wäre trotzdem noch mit Strahlkraft der Vergangenheit versehen gewesen, auch wenn kein historischer Ziegelstein mehr dort gewesen wäre und alles neu aufgebaut worden wäre. Ich glaube, der Inhalt wäre trotzdem noch dort.

DA

Das heißt, Neutralisieren oder „Verwischen“ kann nie ganz gelingen?

Wilfried Kassarnig

Das glaube ich, ja. Es ist einfach der Geist, der Spirit des Ortes, der daran gedenkt oder nicht.

Wilfried KassarnigNeutralisierung
Also der, der es sucht und die Koordinaten nimmt und den Ort ausfindig macht, findet ihn. Es gibt ihn einfach, diesen Ort [... ]. Jeder der Teilnehmer hat es probiert, anders darzustellen und zu lösen. Aber der Inhalt bleibt und am meisten, glaube ich, wird er durch die Zeit geschwächt werden und verblasst.
Gabu Heindl
Ich denke, der Ort kann nicht „neutralisiert“ werden, so wie es in der Ausschreibung für den Wettbewerb formuliert wurde. Denn man würde nicht nur die Geburt Hitlers neutralisieren, sondern man würde auch neutralisieren, was mit dem Haus danach geschehen ist und warum es zu einem intensiv diskutierten Ort geworden ist. Es sollte alles denkbar andere passieren, als dass man ihn mit einer Polizeistation zu „neutralisieren“ versucht.
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DA

Wie haben Sie den Anerkennungspreis von KABE-Springer Architekten wahrgenommen, die die Polizeistation in einem separaten Neubau unterbringen und im Bestandsgebäude ein Mahnmal inszenieren – mit Bäumen, die herauswachsen?

Wilfried Kassarnig

Ich möchte niemanden kritisieren, aber ich finde diesen Weg nicht richtig, weil er sich zu spektakulär macht. Auf seine Art und Weise versucht er, zu verändern, aber er wird sofort zum Anziehungspunkt für das Auge, weil er sich so sehr abhebt von seiner Umgebung. Und diesbezüglich war mein Gedanke, eher hinein in die Umgebung zu komponieren und nicht etwas gegen die Umgebung zu erzeugen, was dann genau den Ort so hervorhebt.

DA

Sie meinen, dass man an diesem Ort eher zu einer Art von Gewöhnlichkeit kommen müsste?

Wilfried Kassarnig

Genau. Als Architekt ist man anderes gewohnt, aber da muss man loslassen, finde ich. Das ist richtig für den Ort und die Umgebung gibt schon sehr viel vor. Wenn ich mich dort unterordne, bin ich in diesem Thema in dieser Form am ruhigsten und neutralsten angesiedelt.

DA

Rückwirkend betrachtet: Kann man den komplexen historischen Fragestellungen, die dieser Ort mit sich bringt, mit baulichen Lösungen gerecht werden?

Wilfried Kassarnig

Gerecht werden weiß ich nicht, aber man kann darauf reagieren. Und jeder, der daran gearbeitet hat, hat es auf seine Art und Weise probiert. Die Jury hat versucht, den Besten herauszufinden, der die meisten der geforderten Punkte erfüllt. Für unser Projekt sehe ich gegenüber dem Siegerprojekt, dass wir den hinteren Platz nicht richtig im Stadtkontext bearbeitet haben, da wäre noch mehr möglich gewesen. Wir haben eigentlich von vorne, von der Hauptfassade nach hinten gearbeitet und irgendwo in der Mitte aufgehört. So kommt unser Projekt mir jetzt im Nachhinein vor. Man hätte auch die zweite Hälfte nach hinten hin noch intensiver durcharbeiten müssen.